Über die Aura
Anmerkungen zu Bildern von Benjamin Kerwien anläßlich eines Atelierbesuchs
Dieses Werk auf den Begriff bringen. Melancholie oder Stille wären Worte dafür. Auch Einsamkeit oder postmoderne Sachlichkeit. Aber dies beschreibt nur unzulänglich, was die Magie in der Bilderwelt Benjamin Kerwiens ausmacht. Um es gleich am Anfang zu sagen: Bilder in Sprache zu übersetzen, ist ein vergebliches Unterfangen. Es ist stets nur Annäherung möglich. Für mich ist dieser Künstler einer der seltenen Poeten des Malgrunds, kühl und nachdenklich, sparsam und farbbewußt, spirituell, kritisch und erzählend zugleich.
Es ist die Aura dieser Bilder, die einen nicht losläßt. Walter Benjamin formulierte in seiner Schrift „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ jene Aura als dessen (des Kunstwerks, K.T.) Unverzichtbarkeit. Benjamin Kerwiens Kunstidee ist metaphysisch, er blickt hinter oder durch die sinnlich erfahrbare natürliche Welt. Und was er da sieht, ist, was er weiß. Eine simultane Komposition zwischen Realität und bloßer Idee, bildgewordener Aussage und Gedanken. Eine Bildwelt, gesättigt von Sinn, Denkarbeit und Gefühlsreinheit. Die Worte werden übersetzt in Komposition und Farbe. Und es sind überdies kritische Zeitbetrachtungen, fern von jeder ästhetischen Uniform. Hier dominiert die ganz eigene Sicht der Dinge.
„Die Verheißung des Hinterhofs“ ist der Titel eines Gemäldes. Nur zwei Stühle im kargen Raum zwischen den Häusermauern. In Ocker und Braun wandert der Blick zum Horizont. Dort sind der Himmel und die Architektur der vergangenen Jahrhunderte. Und mitgedacht der Mensch im Anthropozän, dessen Kommunikation verkommen ist zur seelenlosen Abstraktion, Einsamkeit im von Informationen und Medien überfüllten Leben. Die Stühle bleiben leer. Das Gespräch verkürzt und geführt auf mobilen Bildschirmen, einfältig und in kryptischer Zeichensprache. Kerwiens Bilder erzählen, ohne zu urteilen. Kunst, die wach macht und den Verlust in spröder Schönheit offeriert. Hier reduziert der Künstler auf das Wesentliche, auf Wahrnehmungen, die mittlerweile als selbstverständlich gelten, aber die Störgrößen im Zeitalter der digitalen Revolution zeigen.
In allen Kulturepochen standen Künstler vor der Alternative, mit ihrer Arbeit eine Gegenwelt zu formulieren oder innerhalb der gelebten Gegenwart Möglichkeiten, Ideen und „Werkzeuge“ zur Veränderung einer vorgefundenen Realität zu ersinnen. Benjamin Kerwien hat sich in seinen Arbeiten für beide Entwürfe entschieden. Dies ist die Ursache für zwei wesentliche Aspekte seiner eingreifenden Kunst und Dauer ihrer sozialen Wirkung: Offenheit und gesellschaftliche Dimension, Freiheit und Ordnung beim Vermessen des ästhetischen Raumes.
Von der schwebenden Architektur wechselt der Maler bruchlos in ein „Nächtliches Wiesenstück“. Sein „Schauen ist nicht mehr begrenzt durch einen Raum auf der Erdoberfläche. Es überblickt das Ganze unseres Planeten.“ (Ken Wilber: Eros, Kosmos, Logos). So hält Benjamin Kerwien den (seinen, sic!) Horizont offen für zeitgemäßes Arbeiten. Und dieser Horizont heißt Natur und planetares Bewußtsein. Kunst, die dies leistet, muß zwangsläufig ein melancholisches und zuweilen ironisches Gesicht haben. Sie ist lebensspendend und notwendig, wenn die Not nach Wende schreit. Kerwiens Arbeiten liefern dafür Sinnbilder und ästhetische Reize von beeindruckender Qualität. Sie sind eine wohltuende Entdeckung im Käfig der Beliebigkeit des deutschen Kunstraumes.
Klaus Trende / Sommer 2022